„Du bist wertvoll“

Wenn (angebliche) Selbstliebe blind macht

Sei gegrüßt lieber Freidenker,

vor einigen Tagen stieß ich auf das YouTube-Video „Fitnesscoach trifft Plus-Size-Model“ des bekannten Formates „Leeroy will's wissen“, in dem zwei Menschen mit konträren Ansichten ihre persönlichen Erfahrungen gegenüberstellen. Auch, wenn es sich hierbei um ein Mainstream-Format handelt, empfand ich das Gespräch als äußerst interessant, weil es ein Kernthema behandelt, das auch in der „spirituellen Szene“ immer wieder im Fokus steht: die Selbstliebe. Grob zusammengefasst, vertritt Fitnesstrainer Simon Teichmann die Auffassung, dass Selbstliebe mit einem gesunden Körper Hand in Hand geht – wahre Selbstliebe und starkes Übergewicht demnach nicht miteinander kompatibel seien. Plus-Size-Model Selin Doganci hingegen erlitt aufgrund ihres Übergewichtes bereits im Jugendalter starke Mobbingattacken und setzt sich heute für Selbstakzeptanz und gegen „Body-Shaming“ ein – also für die gleiche Wertschätzung jedes Menschen ungeachtet seines Aussehens.

Die Ansichten der beiden Privatpersonen sind beide tiefverwurzelte Glaubenssätze größerer Gruppierungen bzw. Szenen. Während Simons Motto „wenn du dich liebst, so arbeite an dir, um die beste Version deiner Selbst zu sein“ einen gängigen Standpunkt im Bereich der Fitness- und Persönlichkeitsentwicklungsszene widerspiegelt, findet sich Selins Ansicht in verschiedenen Szenen aktueller Jugendbewegungen oder auch in der „Esoterik-Szene“ wieder. Hier heißt es, „du bist bereits gut, so wie du bist“. Auch moderne Feministinnen vermarkten diesen Slogan gerne, wenngleich kaum eine von ihnen einen stark übergewichtigen, unsportlichen Mann möchte… Welche Ansicht stimmt denn nun? Existiert hier eine absolute Wahrheit oder sind gar beide Ansichten falsch? Gibt es ein Puzzlestück, mit dem sich beide Standpunkte auf einer höheren Ebene verbinden können?

Wert ist nicht gleich Wert

Betrachtet man die Thematik im Detail, wird man zunächst feststellen: es gibt „verschiedene Arten“ von Werten. Ein Gegenstand, den du dir gekauft oder geschenkt bekommen hast, besitzt einerseits einen wirtschaftlichen Wert (Kaufpreis) und zum anderen einen Nutzen, den er für dich körperlich, geistig, spirituell oder emotional besitzt. Die persönliche Bewertung dieses Nutzens möchte ich den emotionalen Wert nennen. Diese zwei Werte, der wirtschaftliche und der emotionale Wert, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Beide werden aber häufig dazu benutzt, den jeweils anderen Wert zu beurteilen, sodass der Unterschied für die meisten von uns gar nicht mehr ersichtlich ist.

Schauen wir uns dazu ein paar Beispiele an. So könntest du einen Kauf bereuen, weil du das entsprechende Produkt rückblickend betrachtet als Abzocke wahrnimmst – der persönliche Wert für dich demnach niedriger als erwartet war. Umgekehrt kann aber ein Gegenstand mit einem materiellen Kaufwert von 10 € für dich „unbezahlbar“ sein. Du würdest ihn nicht einmal für 10 000 € weiterverkaufen, wenn es sich beispielsweise um das einzige verbliebene Geschenk eines verstorbenen Elternteiles handelt, an das dich dieses Stück erinnert. Fast jeder kennt zudem das Beispiel von dem Wasser in der Wüste: wenn du zuhause auf fünf Kisten Wasser sitzt, würdest du niemals 10 € für eine Flasche Wasser bezahlen. Befändest du dich hingegen in der Wüste Gobi kurz vor dem durch Dehydration ausgelösten physischen Tod, wäre dir ein einziger Schluck Wasser dein gesamtes Sparbuchguthaben wert. Dieses simple Beispiel zeigt, dass die meisten Werte auch kontextabhängig variabel sein können.

Genauso lassen sich uns Menschen je nach Kontext verschiedene Werte zuordnen. Wir haben zum einen den Wert als Mensch/ spirituelles Wesen, der meist dann gemeint ist, wenn in spirituellen Kreisen vom Wort Wert die Rede ist. Andererseits gibt es Werte, die davon abhängen, wie andere Menschen uns beurteilen. Zu nennen wäre hier der gesellschaftliche oder volkswirtschaftliche Wert. Dieser lässt sich objektiv daran messen, wie viel wir arbeiten, beziehungsweise wie viel wir der Gesellschaft, in der wir leben, durch unsere erbrachte Leistung nutzen. Ein weiterer Wert wäre der „Datingmarktwert“, wie er in der Red Pill-/ Flirtingszene genannt wird und der sich primär um die Frage „wie attraktiv bist du für das andere Geschlecht?“ dreht. Bei Letzterem spielen „oberflächliche“ Aspekte wie Aussehen, Kleidung, Muskulatur, Geld, Status etc. selbstverständlich eine große Rolle. Jeder, der hierbei so wie ich beide Seiten im Laufe der Zeit durchlebte, kennt den immensen Unterschied hinsichtlich der Fremdwahrnehmung und des daraus resultierenden Erfolges.

So weit, so nüchtern. Was ist jetzt also das grundlegende Problem…?

Bedingungslose Liebe – Wunschdenken oder Realität?

Aus meiner Sicht besteht das Grundproblem in der Vermischung der verschiedenen Formen dieser Werte, obwohl sie völlig eigenständige Bereiche darstellen. So hängen der gesellschaftliche oder der Datingmarktwert primär von messbaren Faktoren ab – sie sind also an Bedingungen geknüpft. Daneben besitzen wir alle aber unseren Wert als Mensch. Und dieser Wert ist unantastbar und unendlich. Du – als emotionales Wesen und spirituelle Seele – besitzt einen Wert, der nicht in Zahlen gemessen werden kann, da dieser tiefste Wert als Mensch unabhängig von weltlichen Faktoren ist. Er ist losgelöst von deinem Kontostand, deinem Auto, deinen Hobbys, deinem Beruf, deiner Brust- oder Penisgröße, deiner Anzahl an Beziehungen und Sexualpartnern etc.

Vergleichen wir zum Beispiel die unterschiedliche Liebesform von Müttern zu ihren Kindern vs. die partnerschaftliche Liebe zwischen Mann und Frau. In der Beziehung zwischen Mutter (evtl. auch Vater) und ihren Kindern kann eine (nahezu) bedingungslose Liebe existieren, weil es der tiefste biologische Urinstinkt einer Mutter ist, das von ihr selbst erzeugte Leben mit vollem Einsatz zu beschützen. Die emotionale Verbindung entsteht bereits durch den Prozess der Schwangerschaft und der Geburt, ohne dass das Kind irgendetwas leisten müsste. (Hinweis: natürlich lieben zahlreiche Eltern ihre Kinder nicht bedingungslos. Ich sage nur, dass hier eine bedingungslose Liebe prinzipiell möglich ist.)

Eine partnerschaftliche Beziehung hingegen ist niemals bedingungslos. Schon beim Kennenlernen überprüft man (bewusst oder unbewusst), ob Aspekte, die einem innerhalb einer Beziehung wichtig sind, mit denen des potenziellen Partners übereinstimmen – man stellt also Bedingungen auf. In der „spirituellen Szene“ beharren viele Menschen auf die Existenz der bedingungslosen Liebe innerhalb einer Partnerschaft. Selbstverständlich ändert sich die Art der Liebe etwas, je länger du einen Menschen kennenlernst – du verliebst dich (im Optimalfall) immer mehr in sein Wesen und seine Charaktereigenschaften und die Relevanz der „oberflächlichen“ Punkte nimmt im Laufe der Zeit etwas ab. Dennoch ein ehrliches Gedankenspiel zur Selbstreflexion: wenn der Partner, den du liebst, z. B. 50 kg zunehmen würde und über Jahre hinweg depressiv wäre, würdest du ihn noch genauso lieben? Mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit würdest du die partnerschaftliche und sexuelle Anziehung verlieren. Allein auf rein hormoneller Ebene würdest du einen Unterschied bemerken, gegen den deine Biologie sich nicht wehren kann. Bei starkem Übergewicht bzw. einem generell kranken Körper ändert sich beispielsweise die Ausschüttung von Pheromonen, welche einen starken Einfluss auf die sexuelle Kompatibilität besitzen – man spricht in diesem Kontext nicht umsonst davon, einen anderen Menschen „nicht riechen zu können“. Bei Männern sinkt zudem der Testosterongehalt deutlich, was die Polarität zwischen männlicher und weiblicher Energie vermindert. Ungeachtet dieser ganzen Punkte könntest du als bewusster und empathischer Mensch selbstverständlich den tiefsten Seelenkern deines Partners weiterhin lieben und ihm als Mensch nur das Beste wünschen. Warum? Weil es sich hierbei schlicht um zwei verschiedene Bereiche handelt!

Jetzt werden wir in unserer „modernen Gesellschaft“ mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert:

Zum einen wird der eine Wert unter- und der andere überbewertet. Während uns der materielle Marktwert als DAS Schlüssel-Symbol für Glück und Erfolg verkauft wird, findet der seelische Wert kaum Beachtung. Noch schlimmer: vielen Menschen ist nicht einmal bewusst, dass sie einen seelischen Wert besitzen, weil sie ihr gesamtes Leben nur auf Leistungsfähigkeit getrimmt wurden. Die Folge sind emotionslose Menschen, die ihre innere Leere mit einer Hülle aus teuren Markenklamotten zu verdecken versuchen. Zum anderen werden die verschiedenen Wertebereiche miteinander vermischt, d. h. Menschen beurteilen sowohl andere als auch sich selbst oft einzig auf Basis des materiellen Wertes und übertragen diesen auf ihren „Gesamtwert“. Schließlich empfinden sie sich als wert-voll, wenn sie Geld und Status besitzen und als wert-los, sobald diese Dinge fehlen. Und genau das ist eine der Ursachen, warum selbst reiche Leute langfristig oft todunglücklich werden. Nicht weil sie Geld verdienen, sondern weil sie es nicht schaffen, ihren tiefsten unendlichen Seelenwert zu erkennen. Stattdessen suchen sie ihren Seelenwert = Selbstwert durch Anerkennung im Außen (primär durch materiellen Erfolg), was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, da es sich schlicht und ergreifend um zwei verschiedene Dinge handelt. Ihr Handeln führt so nur selten zu Zufriedenheit, sondern endet meist in einem maßlosen Treiben, in welchem sie sich aus der verzweifelten Hoffnung auf Anerkennung durch noch mehr Leistung immer weiter Richtung Burnout befördern. Aus dem gleichen Grund werden zahlreiche Musiker oder berühmte Influencer depressiv, sobald ihre Plattenverkäufe oder Instagramlikes, über die sie primär ihren Wert definierten, wieder zu sinken beginnen.

Schattenseiten der „Body-Positivity“

Das mangelnde Bewusstsein über die verschiedenen Wertebereiche (insbesondere den des spirituellen Seelenwertes) innerhalb unserer Gesellschaft führt unweigerlich zu einigen unschönen Verhaltensweisen wie Mobbing und Ausgrenzung. Denn hierbei versuchen Kinder – und leider auch Erwachsene – im Prinzip nichts anderes, als ihren eigenen Wert zu erhöhen, indem sie den des anderen vermindern. Sie glauben aufgrund ihrer eigenen gesellschaftlichen Konditionierung dann als Mensch mehr wert zu sein, obwohl sich eigentlich „nur“ ihr relativer sozialer Status innerhalb der Gruppe erhöht (aus gleichen Gründen gibt es RTL-Formate wie „Mitten im Leben“). Wäre sich die Gesellschaft hingegen ihres bedingungslosen Seelenwertes bewusst, bestünde für derartige Degradierungen keinerlei Notwendigkeit mehr, weil man wüsste, dass sich mit diesen Methoden der tiefe Wert gar nicht beeinflussen lässt. Was ist nun also das Problem, wenn sich Menschen wie das Plus-Size-Model Selin gegen Mobbing und Ausgrenzung und für sogenannte „Body-Positivity“ – also eine positive Einstellung gegenüber dem eigenen Körper – einsetzen? Ist sich selbst zu lieben und zu akzeptieren nicht gerade in einer Welt, in der unser tiefster Wert missachtet wird, von höchster Relevanz? Für mich verbergen sich hinter diesem auf den ersten Blick durchaus löblichen Gedankengang einige Gefahren:

  • Gesundheit. Body-Positivity kann in jenem Ausmaß, wie sie im Mainstream Verwendung findet, massiven Schaden an der Gesundheit verrichten, indem sie offensichtliche Anzeichen eines ungesunden Organismus wie massives Über- oder Untergewicht als Normalität präsentiert. Die physischen Ursachen diverser Symptome wie z. B. Hautkrankheiten, tiefe Augenringe oder schlaffes Bindegewebe werden dann oft nicht mehr weiter erforscht, sondern schlichtweg akzeptiert. Bleiben diese frühen Hilfeschreie des Körpers jedoch unberücksichtigt, führen sie langfristig zwangsweise zu ernsteren Erkrankungen.
  • Emotionale Ursachen der körperlichen Veränderung bleiben unbeachtet. Hier gilt es zu unterscheiden, zwischen Menschen, die mit einem „Schönheitsmakel“ geboren wurden oder ihn durch einen Unfall erhalten haben und jenen Menschen, die ihre Veränderungen – wie z. B. starkes Übergewicht – eigenständig initiierten. Mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung bilden bei Letzterem nur die oberflächliche Ursache. Statistisch gesehen litten übergewichtige Menschen z. B. deutlich häufiger unter traumatischen Erfahrungen in der Kindheit (siehe hier). Essen wurde hier als Kompensation für intensiven seelischen Schmerz verwendet. Das Ergebnis (der ungesunde Körper) ist demnach absolut legitim und psychologisch nachvollziehbar. Doch wäre es nicht zielführender, sich diese Ursachen bewusst zu machen und im Optimalfall aufzuarbeiten, als die permanente Unterdrückung dessen medial als positiv zu vermarkten? Übertrage das Szenario auf einen Drogenabhängigen und dir wird die Doppelmoral der Body-Positivity-Szene schlagartig bewusst.
  • Falsche Selbstliebe. Simon Teichmann stellt im Video die berechtigte Frage, ob es nicht ein Widerspruch sei, von Selbstliebe zu sprechen, während man im gleichen Atemzug seinem eigenen Körper bewussten Schaden zufügt. Hier stehen wir vor der zentralen Frage: Was ist denn eigentlich Selbstliebe? Nahezu alle stark übergewichtigen Menschen geben nach einer erfolgreichen körperlichen Veränderung zu, dass Sätze wie „ich fühle mich wohl in meiner Haut“ nicht der Wahrheit entsprachen und lediglich dem Selbstschutz dienten. Ist es also Selbstliebe, sich selbst zu belügen und große Emotionsanteile abzuspalten? Oder doch nicht eher, sich mit all seinen Emotionen anzunehmen? Mein Lieblingszitat in diesem Kontext stammt von Maria Sanchez und lautet „Wahre Selbstliebe beginnt ganz oft mit Selbsthass.“ Aus diesem Grund können „positive Affirmationen“ in einigen Fällen sehr toxisch wirken, da sie unbewusst das Gefühl von Selbstbetrug fördern.
  • Scham als böse Emotion. Ein vermutlich weniger offensichtlicher Aspekt ist meiner Ansicht nach der Umgang mit Scham. Scham zählt neben Wut, Trauer, Angst, Freude und Ekel zu den sechs Grundemotionen unseres Wesens. Aus ganzheitlicher Sicht besitzt jede dieser Emotionen ihren Nutzen im Leben und kann sowohl förderlich als auch toxisch Verwendung finden. Nehmen wir die Wut als Beispiel. Gehst du bei jeder kleinen Kritik an die Palme und wirst anderen Menschen, im schlimmsten Falle deiner eigenen Familie gegenüber, ungerechtfertigt gewalttätig, ist sie offensichtlich als toxisch zu betrachten. Ein gesundes Maß an Wutenergie ist jedoch notwendig, um z. B. emotionale Grenzen zu setzen oder seine Familie vor Gefahren zu beschützen. Bei Männern kann die Beschämung von gesunder Wut oft jeglichen Funken Männlichkeit auslöschen.

    Die Emotion Scham wird in der Body-Positivity-Szene als generell toxisch betrachtet. Und selbstverständlich kann sie das in einigen Fällen sein. Es ist z. B. toxisch, sich an einem FKK-Strand für seine Nacktheit zu schämen, da es sich hierbei um eine biologisch völlig normale Sache handelt, die lediglich gesellschaftlich mit Scham besetzt wurde. Es ist ebenfalls toxisch, sich für grundlegende menschliche Bedürfnisse oder sexuelle Fantasien und Vorlieben zu schämen. Dies sind toxische Anteile unseres Schamempfindens, die es lohnt, aufzulösen. Doch Scham hat andererseits auch seinen gesellschaftlichen Nutzen und bewahrt uns vor vielerlei seltsamen Verhalten. Wäre Scham zu 100 % ausgelöscht, würden Menschen im Restaurant kein Problem damit haben, sich wie die letzten Primaten zu benehmen. Starkes Übergewicht war vor einigen Jahrzehnten gesellschaftlich weniger akzeptiert und dadurch deutlich schambehafteter als heute. Man wollte unter keinen Umständen fett sein. Wenngleich zu dieser Zeit evtl. Mobbing von Übergewichtigen stärker ausgeprägt war, so schützte das gesellschaftliche Verpönen die Menschen vor den schweren gesundheitlichen Folgen und zwang sie zu einem gesünderen Lebensstil. Die massiven finanziellen Folgen für das Gesundheitssystem und somit höheren Krankenkassenbeiträgen für die Allgemeinheit dürfen ebenfalls in der Cancel Culture kaum noch erwähnt werden. Scham hat im gesunden Ausmaß also durchaus einen Nutzen für ein gesellschaftliches Zusammenleben.

Traumaheilung als Schlüssel zur Veränderung

Doch warum wehren die meisten Menschen sich so vehement gegen die Akzeptanz des reellen Ist-Zustandes, obwohl dieser rein rational betrachtet den viel größeren Nutzen bringt? Nun, eine rationale Beurteilung führt oft dort in eine Sackgasse, wo die Ursache emotionaler Natur ist. Nicht ohne Grund verzweifeln so viele Frauen daran, wenn ihre Männer auf einen emotionalen Ausbruch mit rationalen Argumenten reagieren – es sind zwei verschiedene Sprachen, die hier aufeinandertreffen. Möchte man tiefsitzende Glaubenssätze, die im emotionalen Kontakt mit Menschen entstanden sind, heilen, so helfen rationale Affirmationen in den seltensten Fällen. Denn die langfristige Lösung liegt im emotionalen Kontakt.

Kommen wir zu der stark übergewichtigen Dame im anfangs verlinkten Video als Paradebeispiel zurück. Sie erzählt, wie sie aufgrund ihres Aussehens unter starken Mobbingerfahrungen in ihrer Jugendzeit litt. Diese prägenden Ereignisse haben sich tief in ihr Unterbewusstsein eingebrannt und dafür gesorgt, dass andere Menschen ihren Wert auf Grundlage ihres Aussehens bemessen. Dass sie dies (unbewusst) auf ihren „Gesamtwert“ überträgt, liegt in der bereits erläuterten Vermischung der Wertebereiche begründet – hier schließt sich also nun der Kreis.

Und natürlich kommt jetzt das trotzige Innere Kind aus ihr heraus und denkt sich „fickt euch! Ich bin gut, so wie ich bin - ich muss nicht abnehmen, um wertvoll zu sein!“ Durch die Vermischung der Bereiche hat sie sich selbst in einen Teufelskreis manövriert. Infolgedessen kann sie sich ihr objektiv vorhandenes Problem nicht eingestehen, weil sie aus der Tatsache, dass sie ungesund und unattraktiv ist, automatisch schließt, sie sei als Mensch nichts wert. Würde Selin sich hingegen tieferlegend mit ihren kindlichen Traumata beschäftigen, könnte sie irgendwann lernen, diese Bereiche losgelöst voneinander zu betrachten. Sie wüsste dann einerseits, dass sie – wie jeder Mensch – eine wundervolle, unantastbare Seele besitzt. Sie wüsste aber auch, dass sie rein rational betrachtet ein massives gesundheitliches Problem besitzt, das ihr Leben erschwert, ihr viele Chancen verbauen könnte und ihre „Body Positivity“-Propaganda einen negativen Einfluss auf die Jugend ausüben wird.

Aus diesem Mindset heraus würde ihr ein Lebenswandel viel leichter fallen, da sie diese Veränderung dann nicht für andere, sondern primär für sich machen würde. Sie wäre aber zunächst mit ihrem tiefsten Schmerz der Ablehnung und dem Gefühl des Nicht-Wert-Seins konfrontiert - diesen Schmerz möchten die meisten Menschen (verständlicherweise) nicht fühlen. An genau dieser Stelle benötigt es besonders für Menschen mit harten Mobbingerfahrungen daher keine Magen-OPs, Fitnesskurse und rationale Erklärungen über gesundheitliche Folgen des Übergewichtes, sondern ganzheitliche traumatherapeutische Ansätze wie z. B. Somatic Experience, Ehrliches Mitteilen, Bonding oder Schattenarbeit, um einige meiner favorisierten Tools zu benennen.

Das realistische Weltbild

Die bewusste Auftrennung der Wertebereiche hatte auf meine Entwicklung in vielen Lebensbereichen eine starke Auswirkung.

  • Mein „echtes“ Selbstbewusstsein wurde im Laufe der Zeit deutlich stabiler, weil ich es weniger von externen Faktoren abhängig machte. Ich kann mich trotzdem als wundervollen Menschen wahrnehmen, auch wenn ich in meinem Monat mal weniger Geld verdiene, einen Korb von einer Frau bekomme oder zwei Kilogramm Muskelmasse verliere. Natürlich gelingt auch mir dies aufgrund mehrjähriger gegensätzlicher Konditionierung nicht in jeder Lebenslage, doch hilft das Bewusstsein bereits mit dem selbstkritischen Umgang dessen enorm weiter. Je mehr die darauffolgenden Erfahrungen bewusst wahrgenommen und integriert werden, desto schneller ändert sich die positive Selbstwahrnehmung und damit auch die magische Ausstrahlung – das, was viele als „Charisma“ beschreiben würden.
  • Auf der anderen Seite nahm mein Realismus zu. Ich lernte, den Zustand wie ich die Welt gerne hätte (Potenzialdenken, was auch seine Berechtigung besitzt) von jenem zu unterschieden, wie die Welt gerade faktisch ist. Hiervor flüchten viele Menschen – so auch ich lange Zeit –, weil die Akzeptanz des Status Quo oftmals hart und unbequem ist. Ein Beispiel dafür wäre der Zustand, dass man für das andere Geschlecht aufgrund von Äußerlichkeiten wie starkes Unter- oder Übergewicht unattraktiv ist. Hier hören sich Floskeln wie „jeder Topf findet schon seinen Deckel“ oder „manche Frauen stehen auch auf schüchterne Männer“ für jemanden wie mein früheres Ich mit Untergewicht und ausgeprägter Sozialphobie kurzfristig betrachtet wunderschön und beruhigend an. Langfristig verursachten sie jedoch großen Schaden, weil ich mit jedem vergangenen Jahr mehr realisieren musste, dass Wunschdenken und Realität leider nicht zusammenpassen. Erst die Akzeptanz der Realität und die damit verbundene körperliche und emotionale Veränderung führten zur Wahrnehmung in der Frauenwelt. Gleiches gilt für andere Lebensbereiche. Wunschdenken heilt auf kurze Zeit, doch schmerzt auf lange Sicht. Realismus hingegen schmerzt kurzfristig, doch zahlt sich langfristig aus. Realismus verleiht dir nach anfänglichen Schmerz Macht und Sicherheit, weil die Welt letztendlich auf einfachen Regeln basiert. Du weißt ganz genau: „Wenn ich in Bereich X mehr Erfolg haben möchte, muss ich dafür Y tun.“
  • Entfaltung meines wahren Potenzials. Auf der einen Seite förderte das Bewusstsein über meinen immateriellen Wert die tiefere Erkundung meiner spirituellen Seite und brachte mir so mehr echte Selbstliebe und ganzheitliche Selbstannahme all meiner Facetten. Auf der anderen Seite stiegen meine Leistungen in vielen weltlichen Bereichen wie z. B. sportlicher Leistung oder finanzielles Einkommen weiter an. Was sich zunächst wie ein Paradoxon anhört, ist in Wahrheit keines: durch die Trennung der Bereiche ist es möglich, Probleme im Leben nüchterner zu betrachten, weil sie nicht mehr mit der Stimme des inneren Kindes, das sich nach Anerkennung sehnt, verknüpft sind. Das führt dazu, dass Motivation zum Sport oder ein gesunder Lebensstil leichter fallen, da nicht mehr ständig gegen „den inneren Schweinehund“ angekämpft werden muss, sondern die Motivation immer mehr intrinsischer Natur wird. „Druck erzeugt Gegendruck“. Auch berufliche Ziele können dann mehr vom eigenen Seelenweg gesteuert werden statt nur von der Hoffnung, mit mehr Leistung von Mami und Papi geliebt zu werden. Generell betrachte ich seitdem den Begriff der „Leistungsgesellschaft“ deutlich positiver und stehe dem Wort Leistung neutraler gegenüber. Denn Leistung ist nicht per se „böse“. Leistung zu erbringen, macht Spaß und schenkt uns einen positiven Hormoncocktail. Leistung spornt uns selbst und unsere Mitmenschen zur Weiterentwicklung an und bringt grandiose Dinge hervor, die die Welt verändern. Die Definition unseres Wertes auf alleiniger Basis messbarer Leistung ist das Problem, mit dem wir uns beschäftigen sollten, nicht das Erbringen von Leistung an sich.

(2016 vs. 2022)

Auf die Balance kommt es an

In diesem Artikel stecken viel Herzblut und Seele. Wer mich und meine Beiträge bereits seit Beginn verfolgt, ist mit meinen Lebensphasen vertraut. Ich war ein blasser, untergewichtiger, kranker Junge (der ebenfalls in seiner Schulzeit härtestes Mobbing aufgrund chronischer Akne erlitt) und hatte kaum inneren Selbstwert. Dann folgte Anfang 2019 durch meine körperliche Heilung, Kraftsport, Stylingberatung durch meine Exfreundin u. v. m. eine unglaubliche Transformation auf oberflächlicher Ebene. Das Problem? Ich war seelisch nicht geheilt und daher innerlich nur so lange wertvoll, wie ich mich äußerlich attraktiv fand bzw. Bestätigung von außen bekam. Sobald ich mal einen Monat keinen Sport machen konnte oder in irgendeiner Form Ablehnung im Außen erfuhr, sank mein labiler Selbstwert rapide, da er nicht auf einem festen Fundament fußte. Dies ist übrigens auch einer der Hauptgründe, wieso ich meinen YouTube-Kanal Ende 2019 vorerst aufs Eis gelegt habe. Ich merkte, wie ich meinen Selbstwert noch immer viel zu stark von Feedback und Aufrufzahlen abhängig machte, woraufhin ich kurzerhand nahezu alle Videos löschte (auch wenn ich dadurch auf 3 - 4000 € monatlich verzichte, die mir mein YouTube-Kanal passiv einbrachte).

Seit gut einem halben Jahr habe ich es für mich geschafft eine gesunde Balance bzw. eine Verschmelzung dieser Bereiche zu finden. Das bedeutet, mich auf der einen Seite mit den emotionalen Ursprüngen meiner früheren Sozialphobie zu beschäftigen und (durch die erwähnten Traumatechniken) wirklich zu fühlen, dass mein seelischer Wert unendlich ist und ich bereits in diesem Moment – so wie ich bin – wertvoll auf dieser Ebene bin.

Auf der anderen Seite bedeutete es für mich aber auch, einen Realismus zur Welt zu entwickeln und auf dessen Grundlage sinnvolle, mir nützliche Veränderungen in Angriff zu nehmen oder weiter zu treiben: Mich um mein Aussehen, meine sozialen Fähigkeiten, Finanzen etc. zu kümmern und dadurch zahlreiche Vorteile in verschiedenen Lebensbereichen zu genießen (ohne wiederum von diesen komplett abhängig zu sein). Und ebenfalls die materiellen Dinge wertschätzen zu können, da sie genauso ein Bestandteil unserer Reise sind, ohne sie jedoch als einziges Lebensziel zu betrachten. Das Leben nicht zu verneinen, sondern anzunehmen – und zwar mit all seinen Facetten.

Ein kleines Fazit

Analysiert man die Debatte zwischen Simon Teichmann und Selin Doganci unter den hier thematisierten Gesichtspunkten erneut, fällt auf, wie stark beide aufgrund der unklaren Abgrenzung der Wertebereiche aneinander vorbeireden. Selins Appell, seinen Wert nicht von äußerer Bewertung abhängig zu machen und Simons rationale Erklärungen hinsichtlich Gesundheit und objektiver Schönheit widersprechen sich keineswegs, sondern stellen zwei essenzielle Punkte für ein erfülltes Leben dar. Meines Erachtens fehlt jedoch die Komponente der seelischen Aufarbeitung traumatischer Ereignisse, welche in erster Instanz zu Übergewicht und der daraus resultierenden Ausgrenzung führte. Simons Teichmanns Sportappelle greifen hier zu kurz, da sie suggerieren, gesunde Ernährung und Bewegung seien bereits ausreichend, um Selbstliebe zu erfahren. Dem widerspreche ich vehement. Um zu erkennen, dass dem nicht so ist, genügt ein kurzer Blick ins Fitnessstudio. Denn bei einem hohen Prozentsatz sportlich aktiver Menschen fußt ihre Aktivität eben nicht auf reiner Selbstliebe, sondern auf dem Wunsch, als wertvoll wahrgenommen zu werden, sobald der imaginäre Traumkörper in der Zukunft erreicht wird. Hier geschieht Sport aus purer Minderwertigkeit heraus, während die stark Übergewichtigen aus Resignation ihrer erlebten Minderwertigkeit diesen vermeiden – letztendlich also zwei Seiten der gleichen Medaille. Erst, sobald es uns gelingt, uns von den Erwartungen unserer Gesellschaft emotional zu lösen, jedoch zeitgleich auf mentaler Ebene deren Spielregeln zu verstehen, können wir wahre Freiheit erlangen.


Löse und verbinde.
Benjamin Weidig

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Urheberrecht © 2020, Benjamin Weidig

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